Maschinelle Funktionalität versus sinnstiftende Tätigkeit
von Matthias Thiele
(Auszug aus: Matthias Thiele, Gott die Augen stehlen. Zum Verhältnis Mensch – Maschine, Essay, 142 S., Phänomen-Verlag, 2024)
Die Maschine reagiert nicht strafend auf das Unnütze, sie reagiert lediglich mit den Mechanismen ihres Selbsterhalts. Was nicht empfindlich stört, wird von ihr ignoriert. Was in ihr keine Funktion erfüllt, verblasst allmählich.
Der Schritt ist vollzogen: Wir sind nicht mehr eine Menschheit, die sich eine Maschine geschaffen hat, sondern es gibt nun eine Maschine, die Maschine, deren funktionaler Bestandteil wir geworden sind.
Nicht der psychische Wert eines Menschen, nicht das Leben an sich, entscheidet mehr über seinen Daseinszweck und Existenzsinn, sondern seine Funktionalität für das möglichst reibungslose Wachstum der Maschine.
Ein Großteil der Jobs, den Menschen verrichten, ist ihnen zutiefst gleichgültig. Und die Jobs selbst sind ebenfalls zutiefst gleichgültig, sie berühren weder das innere Sein des Menschen, noch sind ihre Resultate von Bedeutung für ihn.
Das Wort Berufstätigkeit hat seine tiefere Bedeutung verloren oder umjustiert: Fühlte man sich zu einer Tätigkeit berufen, folgte man ihr als Lebenssinn und Lebenszweck. Die Tätigkeit folgte intrinsischen wie extrinsischen Motiven. Talent, Begabung, Familientradition – Attribute, die gemeinsam, sicher mit unterschiedlicher Gewichtung, das Gefühl erzeugten, berufen zu sein für diese Tätigkeit. Die Berufung (die hier nicht göttlich gemeint ist) wurde im Idealfall zu einem Gefühl möglicher Passung von persönlichen Eigenschaften und Fertigkeiten einerseits und Erfordernissen der menschlichen Gemeinschaft andererseits.
Im Fall der Berufung ist der Mensch passiv, er folgt den Bedingungen, die aus persönlichen Begabungen und Möglichkeiten und dem, was die Mitmenschen in einer Gesellschaft brauchen oder wünschen, bestanden. Berufen wird man – von wem oder was?
Heute, im Zeitalter der Maschine (das wir Technium nennen) geht die Berufung von den Anforderungen der Maschine aus. Die Maschine bestimmt über Zweck und Inhalt der Tätigkeiten.
Das Wirken der Maschine folgt nicht den Gesetzen menschlicher Arbeit, dementsprechend trifft der Begriff für sie nicht zu. Statt Arbeit gilt hier: Funktion. Der tätige Mensch wird zu einem Funktionsparameter.
Gott die Augen stehlen
Format: 14,8 x 21 cm, 142 Seiten, Paperback
ISBN: 9788412868067, Unser Preis: 14,90€
Eine der drängendsten Fragen unserer Zeit: Wie positioniert sich der Mensch gegenüber einer zunehmend technologisierten Welt, deren Urheber und Gefangener er gleichermaßen ist? Der Psychologe und Buchautor Matthias Thiele geht in diesem Essay zuerst der Frage nach, welche kollektiven Weltinterpretationen das exponentielle Wachstum der Maschine, verstanden als das Insgesamt aller Technologien, möglich machten, um anschließend deren gegenwärtige Auswirkungen auf Leben und Psyche der Menschen zu untersuchen.
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Die tiefe Gleichgültigkeit, die den Jobs für die Psyche der Menschen innewohnt, lässt im Menschen einen ebenso tiefen Mangel entstehen: der Mangel an Sinn, an physisch erfahrbarer Selbstwirksamkeit. Fehlt dieses Element, entfremdet sich der Mensch von sich selbst, seinem So-Sein, von seiner Natur. Die Freizeit gewinnt an Bedeutung, indem sie die Lücke provisorisch füllt.
Das Selbstwirksamkeitsgefühl ist für den Menschen der innere Seismograph für ein gelingendes Leben. Die Wirkungen der eigenen Tätigkeit müssen physisch und/oder sozial erfahrbar sein, sie müssen wahrgenommen werden können. Diese Wahrnehmung wird möglich durch resonante Beziehungen zur (Menschen-)Welt: Man tritt durch die Tätigkeit in Beziehung zur Umwelt, greift durch diese in den Fluss der Ereignisse ein. Ändert der Strom der Ereignisse durch die Tätigkeit seine Richtung, und sei diese Richtungsänderung noch so minimal, erfährt sich der tätige Mensch als Teil des Ereignisstroms. Sein Wirken führt zu Resultaten. Das Resultat wirkt durch dessen Wahrnehmbarkeit zurück auf die Psyche des Menschen; er sieht, wie sich der Ereignisstrom durch seine Tätigkeit geändert hat, er erfährt sich als wirkender Teil der Welt. Seine weitere Tätigkeit hängt von den bereits erzielten Resultaten ab, sie sind die Antwort der Welt auf ihn. Er wird Teil eines lebendigen Prozesses.[1]
Bezüglich industrialisierter Arbeitsverhältnisse hat Marx bereits von Entfremdung[2] gesprochen. Die mit der Industrialisierung verbundene Konsumkultur wurde von Günther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen) und Hannah Arendt (Vita activa oder Vom tätigen Leben) analysiert. Arendt: „[Lessing:] ‚Und was ist der Nutzen des Nutzens?‘ Die Aporie des Utilitarismus besteht darin, dass er in dem ‚Zwecke-progressus ad infinitum‘ [Nietzsche] hoffnungslos gefangen ist, ohne je das Prinzip finden zu können, das die Zweck-Mittel-Kategorie rechtfertigen könnte, bzw. den Nutzen selbst. Innerhalb des Utilitarismus ist das Um-zu der eigentliche Inhalt des Um-willen geworden – was nur eine andere Art ist zu sagen, dass, wo der Nutzen sich als Sinn etabliert, Sinnlosigkeit erzeugt wird.“ (Vita activa, S. 206)
Fehlt die resonante Antwort der Welt auf die Wirkungen der eigenen Tätigkeit, wird der Mensch aus seinen Verankerungen in der Welt gerissen, er wird zu einem seiner selbst unsicheren Wesen. Ihm fehlen die Rückmeldungen, die über seine Einschätzung, ob die Tätigkeit sinnvoll war oder nicht, entscheiden. Seine Tätigkeiten folgen einem ihm unerkennbar bleibenden Zweck, sie richten sich ins Leere, in eine Schwärze oder einen Nebel. Er kann den Sinn der Tätigkeit nicht mehr erkennen. Wenn aber der Sinn seiner Tätigkeit verloren geht, geht auch das Gefühl für den eigenen Lebenssinn verloren. Der Mensch konstituiert sein Selbstbild über seine Tätigkeiten (seien sie beruflich, privat oder familiär). Die Tätigkeiten sind vollendeter Ausdruck seines So-Seins, sie sind die Handlungsprozeduren, die die vorgeschalteten Prozesse des Lernens, Kommunizierens, Planens, Zielsetzens, Probierens, Umsetzens sichtbar werden lassen. All das zusammen ist das durch Tätigkeit und Wirkung wahrnehmungsfähig gewordene So-Sein eines Menschen. Wird in diese psycho-soziale Prozesskette eine Lücke gerissen, wird das So-Sein unerfahrbar. Weder das So-Sein noch die Wirkungen verschwinden nicht, sie werden nur unsichtbar. Unsichtbar, weil die Wirkungen nicht mehr unmittelbar erfahren werden, sondern in einem der Wahrnehmung des Einzelnen entzogenen Bereich der Maschine stattfinden – wenn überhaupt.
Das Bedürfnis nach Sinnstiftung bleibt dennoch aktuell und muss mit Ersatz gefüllt werden. Man beginnt sich zu interessieren: für Sport, Fernsehserien, Popstars, das Politiktheater, Urlaub, Konsum (das neueste iPhone, die Leistung eines Autos) etc. Diese Interessen haben keine Berührungspunkte mit der beruflichen Tätigkeit, sie finden ausschließlich in der Freizeit statt. Die Freizeit ist eine Erfindung, die den Notwendigkeiten der exponentiell wachsenden Maschine unterworfen ist. Sie ist dementsprechend folgerichtig. Doch die Existenz einer mit Interessen gefüllten Freizeit verweist gleichermaßen auch auf die Existenz einer „Arbeitszeit“, die frei von Interesse ist.
Ein erfülltes Leben, resonanz[3]- und tätigkeitstheoretisch betrachtet, lässt die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit verschwimmen, die Interessen werden zu einer dritten Menge, die sowohl die erste wie auch die zweite, wenn auch auf unterschiedliche Weise, überlagert. Der Mensch folgt einem Sinn, auch wenn der Sinn aus systemtheoretischer Perspektive autopoietisch, also sich selbst erzeugend, gedacht werden muss. Die Selbsterzeugung des Sinns – oder: Sinnstiftung – benötigt die Resonanz von Psyche und Physis, daraus abgeleitet: von Handlung und Tätigkeit einerseits und wahrnehmbarer, rückwirkender Resultate dieser Tätigkeiten aus dem Außen andererseits.
Sinnstiftung ist eines der zentralen Merkmale menschlichen Lebens. Entfremden wir uns dem Sinn oder sind nicht mehr imstande, für uns Sinn durch unsere Tätigkeiten zu stiften, rücken wir in die Nähe von Nutztieren, deren Zweck ihnen, vor allem in der Massentierhaltung, ebenso verborgen bleibt wie dem Menschen, dessen Jobs ihn zum Funktionsparameter im Dienst der Maschine machen.
Die gehetzte Langeweile
So gehetzt das Leben gegenwärtiger Menschen sein mag, in ihrer Seele ist ihnen zutiefst langweilig. Sie sind unterfordert in ihrem Potential und gleichzeitig erschöpft von einem gehetzten und scheinbar nie abreißenden Marathon durch einen Parcours der Irrelevanz.
Der Großteil gegenwärtiger Anwendungen von Technik und speziell digitalisierter Technologien beraubt den Menschen seiner sensorischen und reagiblen Fähigkeiten. Die Reduktion von Handlungen auf minimale Bewegungen der Finger auf Touchpads oder Bildschirmen lässt seine physische und physiologische Selbstwirksamkeit verarmen. Die Komplexität neuronaler Aktivitäten durch Einbezug von grob- und feinmotorischem Cortex, von sensorischen Cortizes, von emotionaler wie intuitiver Wahrnehmung und der Wahrnehmung des Raums ermöglicht kreative und kognitive Hochleistungen. Eine Verarmung dessen drosselt den kreativen Motor des Menschen. Erst diese Vielfalt lässt in ihrem unüberschaubaren Zusammenspiel jene schöpferischen Gedanken, Künste oder Erfindungen, die wir aus der Vergangenheit schätzen, entstehen. Psychologische Studien zeigten immer wieder, dass Intelligenz durch komplexe Handlungen, die sowohl geistige als auch prozedurale Aktivitäten einschließen, gefördert wird, während eine rein auf automatisierte Handlungen reduzierte Tätigkeit die Intelligenz messbar absenken. Intelligenz ist keine statische, keine unveränderliche menschliche Eigenschaft, sie unterliegt den Effekten von Training, Anforderung und Übung.
Die Wahrnehmung des Menschen wird von den Angeboten digitaler Endgeräte systematisch von der natürlichen oder konkreten Außenwelt abgezogen und zu digitalen Informationen gelenkt. Nicht selten sieht man Menschen auf der Straße, deren Augen während des Gehens auf das Smartphone gerichtet sind und in deren Ohren Kopfhörer stecken. Die konkrete Wirklichkeit verliert an Bedeutung, wird immer mehr zu einer Zumutung, der zu entfliehen, die digitale (virtuelle) Welt beruhigende Angebote zu unterbreiten scheint: Musik, Filme, Mems, Bilder, endless timelines auf social media und einiges mehr. Der dadurch entstehende Mangel an sozialen Selbstwirksamkeitserfahrungen wird kompensiert durch das Like, das vom Gehirn auf ähnlich Weise interpretiert wird, als hätte uns ein Freund anerkennend auf die Schultern geklopft.
Die Langeweile, zu der die meisten Menschen in der urbanisierten und digitalisierten Welt verdammt sind, erzeugt Mangelerfahrungen in ihren tiefsten und damit realsten Bedürfnissen. Gleichzeitig werden Menschen in Angst und Schrecken, in Aufregung und erzwungener Empörung[4] gehalten – über Medien, die im Stundentakt über Klimawandel, Terrorismus und Nationalismus berichten, über Katastrophen hier und dort, über Szenarien von möglichen Kriegen, Promihochzeiten etc.
In der (kurzlebigen, aber medial wirksamen) Bewegung XR („Extinction Rebellion“)[5] zeigte sich: Mag das Ziel auch ein hehres sein, die eigentlichen Motive liegen in der Unerfülltheit dessen, was Menschen erleben wollen und müssen und was in ihrer Natur liegt. Sie vernetzen sich, sie halten Workshops ab, in denen sie über Ängste reden, über emotionale Erfahrungen. Eine Frau weint, so wird berichtet,[6] als sie erzählt, wie gern sie einen Baum umarmen möchte, und dabei das Gefühl von Schmerz und Abschied spüre. Hier zeigt sich ein paranoisches Phänomen der Gegenwart. Im Falle von „Extinction Rebellion“ oder der „Letzten Generation“ gesellt sich neben das Engagement auch ein therapeutisches Motiv.
Burnout, Depression und chronischer Stress resultieren nicht aus sinnvoller Arbeit und entsprechender Mühe, sondern aus einem Gehetztsein durch Anforderungen, die keine sinnhafte Verbindung zum inneren Anliegen des Menschen haben. Diese Störungsbilder sind die passenden Symptome unserer Zeit; sie sind Symptome der tiefen Pathologie des gegenwärtigen Gesellschaftssystems.[7]
Die Menschen der Gegenwart sind Sklaven eines nicht mehr abreißenden Zustroms an Informationen geworden, der ihr Gehirn überschwemmt, ihre Gefühle steuert und manipuliert, ihre Ziele neu justiert, (äußere) Erklärungen für ihr tiefes Unbehagen und die Langeweile anbietet, obwohl die Erklärung doch innerhalb der eigenen Psyche liegt.
Die Lösung ist einfach zu verstehen, aber umso schwieriger umzusetzen: die Selbstermächtigung für Entscheidungen, Denken, Fühlen und Handeln. Die Übernahme der Verantwortung für das, was in unserem Gehirn passiert, in der Folge für unser Denken, unsere Kommunikation und unser konkretes Handeln in der Mitwelt. Schwer umzusetzen ist diese Lösung, weil wir wie hypnotisierte Kaninchen auf das gleißende Licht der manipulierenden Informationen starren und den Blick nicht mehr abwenden können. Das aber ist die Lösung: den Blick vom Bildschirm lösen und mit wachem Geist in die Welt schauen.
[1] Der Mensch erfährt sich somit als schicksalhaftes Wesen, dessen Lebensverlauf sich linear (mit Anfangs- und Endpunkten, die keinen Kreis bilden) in der Zeit inmitten einer Welt, in der überall sonst ein Ende immer wieder in einen Anfang übergeht, bewegt. Die antike griechische Philosophie sah den Menschen damit als einen Sonderfall, eine Ausnahme in einer zyklischen Welt, in der selbst Tiere nur als einzelne Glieder einer endlosen Generationskette verstanden wurden. Vgl. Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Piper, 2021, S. 36ff.
[2] Streng genommen ist dieses Wort nicht präzise: Die Vorsilbe Ent- verweist eigentlich auf die Auflösung dessen, was nach ihr folgt. Enthemmung etwa meint den Wegfall der Hemmung, Enthüllung meint, dass die Hüllen fallen. Man müsste eigentlich von Verfremdung sprechen. Da sich der Begriff aber im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat, soll er hier beibehalten werden.
[3] Resonanz im Sinne des Soziologen Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Suhrkamp, 2016.
[4] Peter Sloterdijk sprach von einer Empörungskultur.
[5] Heute nahezu vergessen. Ihr Nachfolger im Jahr 2023 ist die Vereinigung „Letzte Generation“.
[6] https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/extinction-rebellion-was-die-neuen-klima-aktivisten-planen-a-1282370.html
[7] Vgl. Han, Byung-Chul, Müdigkeitsgesellschaft, Matthes und Seitz, 2016.